Hell und dunkel sind Wahrnehmungen. Wir sehen sie. Dieses Sehen basiert auf der Reaktion von Rezeptoren auf der Netzhaut des Auges, den Stäbchen. Die Stäbchen reagieren auf energetische Strahlung eines bestimmten Frequenzbereichs, dem sichtbaren Licht, in dem sie die Energie der auftreffenden Lichtquanten aufnehmen und einen elektrischen Impuls generieren, der an das Gehirn weitergeleitet wird. Das Gehirn ordnet den Impulsen einen Sinneseindruck zu. Wird ein Impuls registriert bedeutet dies hell, kein Impuls heißt dunkel. Hell und dunkel schließen einander aus.
Auf der anderen Seite haben hell und dunkel die gleiche Basis – sie basieren auf dem Verhalten der Stäbchen auf Licht. Anders gesagt, das Gehirn ordnet der einen Informationsquelle, dem Licht, zwei gegensätzliche Wahrnehmungen zu. Dunkel basiert auf der Information, dass kein Licht registriert wurde, denn sonst wäre es hell. Umgekehrt definiert sich hell daraus, dass Licht eingetroffen ist und es deswegen nicht dunkel sein kann. Das heißt auch, hell und dunkel beziehen ihren Informationswert aus dem jeweiligen Gegenteil. Hell macht nur in der Abgrenzung zu dunkel Sinn, und umgekehrt. Dies wird auch darin deutlich, dass sich ihr Informationsgehalt erst im Kontrast zueinander deutlich offenbart.
Unsere primäre Lichtquelle ist die Sonne. Würden wir jedoch nur das Licht, das die Sonne abstrahlt, wahrnehmen, könnten wir nicht viel mehr als Tag und Nacht unterscheiden. Für die Orientierung in der Umwelt wäre das wenig hilfreich. Das Licht erhält seine Bedeutung für uns dadurch, dass die Dinge um uns herum unterschiedlich auf Lichtquanten reagieren, sie in unterschiedlichem Maße absorbieren oder reflektieren. Sie werden dadurch zu sekundären Lichtquellen, die unterschiedlich hell oder dunkel sind. Die entstehenden Abstufungen ermöglichen es, sie zu unterscheiden. Mit anderen Worten, die für uns wichtigen Informationen stecken vor allem in den Übergängen zwischen ganz hell und ganz dunkel.
Kehren wir noch einmal in den dunklen Park zurück. Dass die Bäume das vorhandene Licht stärker absorbieren als andere Dinge, die uns umgeben, führt dazu, dass man die Bäume als dunkel abgehoben in der Umwelt wahrnimmt. Man kann sich daran orientieren und einigen, zweifellos schmerzhaften Zusammenstößen ausweichen. Wichtig für die Orientierung ist also lediglich die Information, dass hier ein Baum steht. Er grenzt sich für uns dunkler von der Umwelt ab.
Wenn man einem bestimmten Baum etwas näher tritt, dann sieht man vielleicht auch, dass seine Rinde an manchen Stellen beinahe glatt und an anderen vielleicht bemoost ist. Diese Information hat unser Gehirn, indem es uns über einen dunklen Baumstamm informierte, glatt unterschlagen. Sie war für die Orientierung im Park auch nicht von Bedeutung.
Nimmt man nun für die Betrachtung Hilfsmittel hinzu, ein Mikroskop zum Beispiel, dann sieht man auf dem Baumstamm wahrscheinlich ganz vielfältige Strukturen, die jeweils in unterschiedlicher Weise Licht reflektieren und absorbieren. Das heißt, zu einem bestimmten Zweck – der Orientierung in der Landschaft – reicht die vereinfachte Information „dunkles Etwas = Baum“ völlig aus. Mehr Information wird deshalb auch nicht zur Verfügung gestellt. Erst, wenn nicht das Hindernis Baum interessant ist, sondern der Baum mit seiner Oberflächenstruktur, dann nähert man sich ihm in anderer Weise, dann werden weiterführende Informationen zur Bewertung bereitgestellt. Auf der anderen Seite kann es gut sein, dass der Park an einer Landstraße liegt und man im Vorbeifahren registriert „Oh, ein Park“, ohne dass man auch nur einen einzigen Baum wirklich wahrgenommen hätte.
Interesse steuert die Wahrnehmung. Was man wahrnimmt, hängt also nicht nur vom Gegenstand der Wahrnehmung ab, sondern auch vom Zweck der Betrachtung. Wenn aber der Zweck die Wahrnehmung steuert, was hat dann die Wahrnehmung noch mit der Realität zu tun? Ist unsere Wahrnehmung „wahr“? Erinnern wir uns kurz an die Farben. Farbe ist eine Erfindung unseres Gehirns und trotzdem spiegeln die Farben und Farbtöne Unterschiede in den Eigenschaften der Dinge wider, auf deren Basis sie schnell und sicher differenziert werden können. Der Zweck steht im Vordergrund. Wird mit der Art der Wahrnehmung dieser Zweck erreicht, dann ist die Wahrnehmung hinreichend wahr. Sie ist jedoch nicht die Wirklichkeit selbst und auch kein identisches Abbild von dieser. Ähnliches gilt auch für die unterschiedlichen Wahrnehmungen des Baumes. Wird der Zweck erreicht, im Beispiel war es die Orientierung in einem dunklen Park, dann entspricht die Wahrnehmung „dunkler Baum“ diesem Zweck. Dass der Baum weder dunkel ist, noch eine homogene Oberfläche hat, spielt für den Moment keine Rolle. Die Wahrnehmung ist hinreichend wahr, auch wenn sie das Phänomen „Baum“ nicht einmal im Ansatz erfasst.
Hinzu kommt, dass selbst das Betrachten ein sich fortwährend modifizierender Prozess ist. Nicht nur der Fokus der Wahrnehmung ändert sich immerfort, auch die Dinge selbst sind in ständiger Veränderung begriffen. Alle Versuche, diese Dynamik einzuschränken, zum Beispiel durch das Starren auf einen Punkt, sind anstrengend und nur begrenzt möglich. Das Gleiche gilt für den Wechsel von hell und dunkel. Das Auge braucht diesen Wechsel und die Übergänge zwischen den Extremen. Es mag weder „nur hell“ noch „nur dunkel“. Wird es einem solchen Stress ausgesetzt, leidet über kurz oder lang die Sehfähigkeit. Mehr noch, wird ein Kind von Geburt an in einem völlig dunklen Raum festgehalten, dann kann sich seine Sehfähigkeit nicht entwickeln. Es bleibt blind, auch wenn es später befreit wird. Auf der anderen Seite kann Sehfähigkeit zerstört werden, wenn ein zu energiereiches Licht auf das ungeschützte Auge trifft und es „verblitzt“ wird. Sehen ist also in doppelter Hinsicht dynamisch – als Prozess des Sehens und indem es Informationen über eine Umwelt erfasst, die selbst in ständiger Veränderung begriffen ist. Und, dieses dynamische System hat Belastungsgrenzen.
Fassen wir zusammen. Gegensätze bestehen aus zwei unvereinbaren Seiten oder Polen eines Dinges oder einer Situation, die trotzdem ein Ganzes bilden, in welchem das eine nicht ohne das andere existieren kann. Die Pole und der aus ihnen erwachsende Kontrast sind jedoch nur ein Aspekt des Widerspruchs. Die große Vielfalt seiner Erscheinungen liegt im Spektrum der Übergänge zwischen den Polen, hier in den schier unendlich vielen Abstufungen von hell und dunkel. Darüber hinaus ist der Widerspruch in ständiger Veränderung begriffen, weil sich einerseits seine inneren Wechselwirkungen, im Beispiel der Zweck der Wahrnehmung, und andererseits die äußeren Bedingungen, hier die betrachtete Umwelt, permanent verändern. Versucht man, diese Dynamik zu unterdrücken, kann dies den Gegensatz und damit auch seine produktiven Möglichkeiten zerstören. Die Sehfähigkeit ginge verloren.
zuletzt geändert: 20.02.2019